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Woyzeck – wie oft geht immer zu?


Wer sich „Woyzeck“ anschaut, blickt in Abgründe. Abgründe, die tiefer und menschlicher sind als vorstellbar ist. ‚Immer zu‘ steht über allem. Immer zu gibt es eine neue Aufgabe für Woyzeck und eine neue Situation, die die Zuschauenden mit ihm gemeinsam ertragen und verarbeiten müssen. Immer zu wechselt das Bühnenbild, wechseln die Charaktere, wechselt die Lautstärke, wechseln die Stimmen. Stimmen, die leidtragend sind für die Welt Woyzecks, einem schizophrenen Soldaten, gefangen in seiner nie genügenden Arbeitsexistenz, seinem rastlosen Alltag und noch mehr in seinem eigenen Kopf. Immer zu sind für Woyzeck auch die Türen der scheinbaren Befreiung da, aus denen stattdessen die Figuren und Pflichten, all das ständige Leid hervortreten.

 

Was ein dunkles, schlichtes und kaltes Bühnenbild bewirken kann, wenn es der Handlung entspricht und sie unterstützend umrahmt, die Darstellenden zu ungreifbaren und doch so nahen, unaufhaltbaren Figuren verwandelt, den Emotionen eine Freiheit, aber gleichzeitig nur Leere gibt. Mit filmischen Einspielern, makabren Motiven, zirkusartigen Horrorgestalten, großer Gefühlskunst und eindringlicher musikalischer Untermalung zieht das Schicksal Woyzecks die Zuschauenden in einen Bann, der kaum loslassen will. Manch einer wird nur vom Schmerz erschlagen, andere werden sich in dem unterdrückenden Karussell der Erwartungen und Pflichten, Stimmen und Emotionen wiedererkennen und mitfühlen. Sie alle werden einer unangenehmen Überreizung der Sinne ausgesetzt, einer ausweglosen Tragödie, die jegliche Lebensromantik zerschlägt und jedem einzelnen im Publikum wehtut. 

 

Unter der Regie von Enrico Lübbe tragen die Figuren des gleichnamigen deutschen Drama-Klassikers von Georg Büchner ein unaufhaltbares Leid auf die Bühne. Ein Leid, das in seiner großartigen Emotionalität, der Intensität und Vollkommenheit der Figuren- und Charakterdarstellungen und den unangenehmen und eindrücklichen Motiven und Szenenbildern erschüttert und dabei unglaublich fasziniert und fesselt. Ein dramatisches Spiel zwischen Lebendigkeit und Leere, Gesellschaft und Einsamkeit, Ruhe und Rastlosigkeit, schützender Dunkelheit und blutroter Bedrohung, die einen als Beobachtenden distanzieren und zugleich als Beteiligten einspannen. Eine Darstellung, die die Grenzen zwischen Innen- und Außenwelt verschwimmen lässt, die Wirklichkeit in Frage stellt und das Leben überdenken und gleichzeitig vergessen lässt. 

 

Ein Stück, das fordert und entmutigt, erdrückt und fast zerdrückt und kein Entkommen ermöglicht. Jedoch gerade, weil es so gut ist. Weil man wissen sollte, worauf man sich einlässt, weil die schauspielerische Leistung, jedes Wort und jede Handlung das gesamte Stück tragen und diesen quälenden Kampf, die Tragödie, aushaltbar, bewegend und vor allem zu einer überwältigenden Erfahrung machen. Eine unerträgliche Unterwanderung der Psyche, in der sich jeder Zuschauende seinen eigenen inneren Tiefen entweder öffnet oder verschließt und sich einer mitreißenden aber kräftezehrenden Ungewissheit der Wirklichkeit und des Bewusstseins aussetzt. Immer zu wird man noch an den Woyzeck von Christoph Müller denken müssen und immer zu wird man froh darüber sein, diese Darstellung miterlebt zu haben.

 


Louisa ist Teilnehmer*in des SCENEN::NOTIZ Kollektivs in der Spielzeit 2023/24.  

SCENEN::NOTIZ ist ein Projekt des Schauspiel Leipzig in Kooperation mit der Jugendpresse Sachsen e.V..

Es richtet sich an alle theaterinteressierten Menschen, die ihre Gedanken zu den Inszenierungen in Form von Kritiken und Rezensionen festhalten möchten. Im Anschluss an einen kostenfreien Theaterbesuch tauschen sich die Teilnehmer*innen über das Gesehene, sowie die dazu entstanden Texte, gemeinsam mit dem Team der Theaterpädagogik und einer Vertreter*in der Jugendpresse aus. Die fertigen Texte werden dann hier auf dem hauseigenen Blog veröffentlicht!


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