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Woyzeck – er hätte seine Frau nicht erstechen sollen


Büchners „Woyzeck“ ist vielleicht ein Stück Literatur, das sich einem nicht unmittelbar offenbart – ein psychisch kranker Kriegsveteran, der mit einer Erbsendiät und einer scheinbar nicht erschöpfbaren Geduld von einer ganzen Gemeinde hingehalten und zum Sündenbock gemacht wird, während er versucht, einen Platz in dieser zu finden. Es ist nicht unbedingt der Stoff, in dem man sich sofort wiederfinden oder sich damit identifizieren kann. Trotz dessen erkämpft sich „Woyzeck“ bis heute hartnäckig einen immer wiederkehrenden Platz auf den deutschen Bühnen, die Grausamkeit und Härte seiner traurigen Geschichte scheint eine Faszination auszuüben, die auch ich beim Sehen der Leipziger Inszenierung zum ersten Mal nachvollziehen konnte.

 

Mit dem Bühnenbild von Etienne Pluss und den Kostümen von Bianca Deigner wird eine Welt gezeigt, die vollkommen trostlos zu sein scheint, die das Leipzig der 1820er zu einer Mischung aus nie endenden Gefängnisgängen und einem Jahrmarkt des Horrors verwandelt. In ihr wandeln Gestalten, die fast schon an der Schwebe zum Absurden herumturnen, die gleichermaßen unmenschlich und erbarmungslos wie vertraut wirken, die an Punkten sogar den Spieß umdrehen und den armen Woyzeck, nahbar und feinfühlig gespielt von Christoph Müller, zu einem Fremdkörper machen. Die eigens für das Stück konzipierte musikalische Rahmung von Philip Frischkorn haucht der Welt gleichermaßen Leben wie Brutalität und Rohheit ein.

 

Die Inszenierung legt den Fokus klar auf den Aspekt der psychischen Gesundheit Woyzecks und der Welt, in der sie dermaßen verformt wurde, dass er gar nicht anders konnte als seine Marie zu erstechen. Eigentlich, so legt es die Inszenierung nahe, wurde sie kollektiv ermordet, von jeder einzelnen Kreatur dieses Kabinetts der Kälte. In dem Maße, in dem Enrico Lübbe es schafft, einen möglichen Einblick in das zunehmend psychotische Gehirn Woyzecks zu liefern, im gleichen Maße verfehlt er hier, den Mord Maries als das zu benennen, was er ist: ein Femizid. 

 

Die durch Büchner angestoßene Woyzeck-Debatte der kollektiven Schuld fragt nach der Verantwortung des Einzelnen, auch in einer grausamen Umwelt. Insbesondere als Frau, insbesondere in der Jetzt-Zeit erhoffte ich mir einen Zugang, der sensibel und differenziert genau diese Debatte unter zeitgeistigen Aspekten herausarbeiten würde.

Büchner führt eine zweite Größe in der Frage nach Verantwortung an, die für das Einrichten der Umstände zuständig ist, eine politische Verantwortung für uns alle. Das sind zwei Dinge und man kann sie nicht zusammenwerfen. Woyzeck aber bleibt schuldig und diese Schuld kann auch nicht durch seinen von der Gesellschaft herbeigeführten Wahnsinn auf die Gesellschaft übertragen werden. Vielmehr trifft die Gesellschaft eine zusätzliche, zweite Schuld, die aber in der Regel nicht justitiabel ist, also nicht vor Gericht gebracht werden kann (im Gegensatz zu Woyzecks Tat). Das ist das Dilemma, auf das Büchner aufmerksam macht und das letztlich auch die Aktualität des Stückes ausmacht.

Die Inszenierung versucht, systematische Zusammenhänge zu visualisieren und übersieht dabei leider, dass auch Maries Tod nicht nur das Ergebnis einer Welt ist, die ‚gute‘ Menschen wie Woyzeck nimmt und verschluckt, sondern ebenfalls systematischen Charakter hat, als Ergebnis einer Welt in der Männer, die gewaltbereit sind, Frauen zu ihren Opfern machen.

 

Und so scheint mir das Gezeigte Gefahr zu laufen, einen Täter zu entschuldigen, ja ihn sogar zum Opfer der Gesellschaft zu machen, indem Maries Tod lediglich als Symptom einer so eingerichteten Welt wird, Woyzecks tragisches Dasein unterstreicht, ihr Schicksal jedoch selbst nie zum Subjekt der Inszenierung heranwächst. So wird der Stoff weder wirklich aktualisiert noch kritisch beleuchtet. Er verbleibt im Zuständlichen, ohne etwas zu fordern, ohne ehrlich Partei zu ergreifen.

 

Für all jene jedoch, die „Woyzeck“-Neulinge sind oder noch immer den Zugang zu Büchners anspruchsvollem Fragment suchen, ist Lübbes Inszenierung eine Möglichkeit, endlich zu verstehen, warum Woyzeck uns nicht loszulassen scheint. Die trostlose, unermüdliche Welt des Woyzecks greifbar zu machen, gelingt. Nur diejenigen, die sich vielleicht eine Perspektive wünschen, die all dem Grauen in und um Woyzeck etwas entgegenzusetzen weiß, müssen leider weiterhin warten.

 


Lilith ist Teilnehmer*in des SCENEN::NOTIZ Kollektivs in der Spielzeit 2023/24.  

SCENEN::NOTIZ ist ein Projekt des Schauspiel Leipzig in Kooperation mit der Jugendpresse Sachsen e.V..

Es richtet sich an alle theaterinteressierten Menschen, die ihre Gedanken zu den Inszenierungen in Form von Kritiken und Rezensionen festhalten möchten. Im Anschluss an einen kostenfreien Theaterbesuch tauschen sich die Teilnehmer*innen über das Gesehene, sowie die dazu entstanden Texte, gemeinsam mit dem Team der Theaterpädagogik und einer Vertreter*in der Jugendpresse aus. Die fertigen Texte werden dann hier auf dem hauseigenen Blog veröffentlicht!


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