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Niederwald


Nie hätte ich gedacht, dass mir das ungeheuerliche Fortschreiten der Zeit zum ersten Mal so richtig in einer Geschichte über ein kleines Dorf tief in den Bergen der Schweiz vor Augen geführt werden würde.


Die Geschichte scheint eigentlich simpel: Ein Mann verliert seine Braut noch vor der Trauung durch einen Autounfall. Er, seine Großmutter und seine neugeborene kleine Tochter ziehen daraufhin weg. Weit weg. Dorthin, wo sie niemand, nicht einmal die Trauer, wieder finden kann. Wie ein Fremdkörper, der nirgends mehr reinpasst als nach da unten, in das traditionsversessene Örtchen am Rande eines reißenden Flusses irgendwo im Schweizer Wald. Oder warum heißt es sonst Niederwald? Hier versuchen sie sich ein Leben aufzubauen, immer unter dem kritischen Blick der einheimischen Frauen, Anna und Alice. Und dort wächst sie dann auf, sein Tochter, die von Jahr zu Jahr mehr seiner verstorbenen Frau zu gleichen scheint.

 

In dieser vom Schauspiel Leipzig aufgetragenen und uraufgeführten Arbeit von Wolfram Höll beschwört dieser eine ohrenbetäubende Dramatik herauf, und zwar nur mit den Mitteln der Sprache. Weite Passagen kommen hier als regelrechter Textkanon oder sogar Text-Quodlibet, wie Chorwerke, daher ein kunstvolles, präzise eingeübtes Auseinander, Ineinander, manchmal auch Widereinander der Worte. Höll lässt Inhalt und Sprache verschwimmen und legt dabei eine angenehme Selbstreflexivität des Textes an den Tag, dass nie ein Wort zu viel gesagt wird, kein Rätsel zu kurz oder zu lange ungelöst bleibt, er nie der Verführung des Kitsches verfällt.

 

Doch die dramatische Grundlage funktioniert nicht zuletzt auch wegen ihrer Inszenierung von Elsa-Sophie Jach und den Darstellenden so gut und schafft es, auf diesem schmalen Steg zu balancieren. Der mit Bergen gespickte, vielschichtige Hintergrund legt im Laufe des Stückes im wahrsten Sinne des Wortes die Geschichte, die alle Figuren vergessen zu versuchen, offen. Unter den Klängen atmosphärischer, vielseitig eingesetzter Gitarrenklänge, beginnt man, einen nach dem anderen ins Herz zu schließen. Sei es die freche Urgroßmutter, dargestellt von Thomas Braungardt, der ihr Leben und jede Menge Witz einhaucht, die beiden grotesken Figuren Anna und Alice, die sich so fabelhaft gegenseitig ergänzen und durch die Leistung von Anne Cathrin Buhtz und Paulina Bittner trotzdem menschlich wirken, oder sogar der von einem Trauermantel behangene, ernste Vater, den Markus Lerch so greifbar macht, dass es mir schwer fällt, zu glauben, dass es sich lediglich um eine Rolle handelt. Die Tochter, in alternierender Besetzung gespielt von Teresa Schergaut und Isabel Tetzner, wird von beiden Darstellerinnen gleichermaßen toll ausgefüllt, sie ist das Herzstück der Geschichte, vielleicht sogar der Grund, warum all diese Charaktere es immer und immer wieder miteinander versuchen.

 

Niederwald widmet sich dem romantischen Motiv der Vergänglichkeit mit einer unglaublichen Wärme, mit Witz und Melancholie und würdigt dabei die Toten, nimmt sie ernst. Doch letztendlich geht es auch hier immer um die Lebenden, um das, was verbleibt. Um vollends meine aufrichtige Rührung ausdrücken zu können, finde ich daher kaum die Worte. Ein Glück aber, dass Wolfram Höll sie findet, und zwar zu Hauf. Daher bleibt mir nur zu sagen: Geht ins Theater. Schaut Niederwald“.


Lilith ist Teilnehmer*in des SCENEN::NOTIZ Kollektivs in der Spielzeit 2023/24.  

SCENEN::NOTIZ ist ein Projekt des Schauspiel Leipzig in Kooperation mit der Jugendpresse Sachsen e.V..

Es richtet sich an alle theaterinteressierten Menschen, die ihre Gedanken zu den Inszenierungen in Form von Kritiken und Rezensionen festhalten möchten. Im Anschluss an einen kostenfreien Theaterbesuch tauschen sich die Teilnehmer*innen über das Gesehene, sowie die dazu entstanden Texte, gemeinsam mit dem Team der Theaterpädagogik und einer Vertreter*in der Jugendpresse aus. Die fertigen Texte werden dann hier auf dem hauseigenen Blog veröffentlicht!