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America, das war doch ...?

Manchmal, da dauert es länger bis es klick macht. Der Abend, an dem ich America sehe, ist ein solcher, und vielleicht ist das bereits auf die ein oder andere Art und Weise eine Eigenschaft, die der Protagonist des Stücks und ich teilen.

America das war doch … irgendwie Freiheit oder sowas? Was passiert hier eigentlich? Ich sehe die fünf männlichen Darsteller, ich sehe sie in pinken Stiefeln und Latex, ich sehe sie in Kleidern oder kurzen Hosen, ich sehe sie tanzen, höre die Worte und ertappe mich dabei, wie ich lachen muss oder gerührt bin, aber mein Gehirn schafft es nicht, die Punkte zu verbinden. Und dann: ein Satz und auf einmal ist alles ganz klar. In dieser Inszenierung von Georgio Ferrettis Text bekommt jede einzelne Person im Publikum einen ganz persönlichen Einblick in das fast nicht Greifbare. Die Worte, die Ferretti für sein America findet, kitzeln ganz tief in einem etwas wach.

 

America, das ist sicherlich vieles, aber vor allem die Geschichte einer Suche. Es ist die Geschichte eines jungen Italieners, eines Mannes, der es manchmal greifen kann, so wie auch ich eine Ahnung bekomme, was er da eigentlich will und doch, ehe wir uns versehen, entgleitet es. Die Figur wird dabei auf ganz pure, ehrliche Weise von Samuel Sandriesser verkörpert.

Es gibt sicherlich viele verschiedene Arten und Weisen, ein ganzes Leben zu erzählen, aber selten sah ich das auf so eine ambivalente Art und Weise geschehen, irgendwo zwischen schüchterner Zärte und purer, farbenfroher Wucht. Das ist Expressionismus pur, das ist grell und überspitzt, und das macht vor allem eins: extrem viel Spaß. Die herausragend gute Musikauswahl, die einen immer wieder in das Italien der 1980er Jahre hineinversetzt, die aufwändige Videokunst, das Bühnenbild, das einen genau dann wieder überrascht, wenn man denkt, man hätte alles gesehen, die flamboyanten Choreographien von Regisseurin Salome Schneebeli und vor allem die Darsteller, die selber solch eine Freude an der Inszenierung zu haben scheinen, dass man gar nicht anders kann, als mitgerissen zu werden. Und genau dort, in dem Dschungel an Kreativität, liegt eine Tiefe und Verletzbarkeit, die alles irgendwie echt macht, so echt, dass ich verstehe, dass diese Geschichte nicht nur eine von vielen ist, sondern sich traut, mit dem Zuschauenden gemeinsam etwas zu suchen, das es sich zu suchen lohnt. Es sind die vielen Details, die jede Erinnerung der Hauptfigur, jede Etappe ihres Weges genau so intensiv erscheinen lassen, dass sie vielmehr fühlbar als greifbar werden, es ist manchmal so, als könnte ich die Luft riechen.

 

In dem Moment, in dem ich endlich verstehe, da wird mir klar, America ist eigentlich gar nicht für mich gedacht, es ist eine queere Geschichte, die ihre emotionale Reichweite erst genau in der queeren Erfahrung wirklich entfaltet. Es geht hier sicherlich nicht darum, Queer-sein für ein heterosexuelles Publikum lieb und einfach aufzubereiten oder ist in irgendeiner Weise moralisch aufgeladen, hier gibt es kein Gut und Schlecht, das Stück findet in anderen Kategorien statt, zu denen man rein kognitiv gerade mal in der Symbolik einen Zugang finden kann. Und genau das ist, was wirklich inklusives Theater ausmacht und genau daher begeistert mich America. Fragmentarisch, in körperlich und sprachlich intensiven, teils verzerrten, fast schon traumartigen Passagen offenbart sich, was das America sein könnte, was es vielleicht immer schon war oder in Wirklichkeit noch nie so existierte.


Lilith ist Teilnehmer*in des SCENEN::NOTIZ Kollektivs in der Spielzeit 2023/24. 

SCENEN::NOTIZ ist ein Projekt des Schauspiel Leipzig in Kooperation mit der Jugendpresse Sachsen e.V..

Es richtet sich an alle theaterinteressierten Menschen, die ihre Gedanken zu den Inszenierungen in Form von Kritiken und Rezensionen festhalten möchten. Im Anschluss an einen kostenfreien Theaterbesuch tauschen sich die Teilnehmer*innen über das Gesehene, sowie die dazu entstanden Texte, gemeinsam mit dem Team der Theaterpädagogik und einer Vertreter*in der Jugendpresse aus. Die fertigen Texte werden dann hier auf dem hauseigenen Blog veröffentlicht!