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Hat euch das immer noch nicht gereicht?

 

Dieser Abend zeigt, was Medea mit den sozialen Medien gemeinsam hat, warum Mehrstimmigkeit sinnvoll und Einstimmigkeit gefährlich ist und warum wir zur Rettung der Gesellschaft in den Hades springen müssen.

 

Antiker Schein

 

Thomas Köcks „vendetta vendetta (a bunch of opfersongs)“ ein Auftragswerk vom Schauspiel Leipzig, findet auf der Hinterbühne des Schauspielhauses statt. Der Anblick einer breiten rosa Treppe und einer auf einem hohen Stoffvorhang zentralperspektivisch abgebildeten Architektur erinnert an Raffaels „Die Schule von Athen“ wären am Rand nur nicht diese Liegestühle aus Plastik. Auch die drei erscheinenden Elf-Gestalten in grünen Gewändern mit langem weiß-blondem Haar passen nicht so ganz zu Raffael. Während die Wesen als symbolische Mythen den Opfertod von Lucrezia nachstellen, scheint noch so weit alles in Ordnung. Doch sobald sie spielerisch-albern über das Konzept der Rache diskutieren und dabei das erste „fuck“ erklingt, bröckelt der antike Schein.

 

Auch der im mystischen Gegenlicht-Nebel auftauchende neunköpfige Chor passt vorerst in die griechische Tragödie. Wäre der dissonante Gesang – komponiert von Andreas Spechtl – nur nicht zeitweise von einem dumpfen Bass untermalt und würden die schwarzen, mächtigen Gewänder nicht so sehr an das Kostümbild des neuen Dune-Films und ein bisschen an Drag erinnern. Zwei ebenfalls langhaarige Gestalten mit weiten Ritterkostümen aus Fell vollenden in Kombination mit den drei an Legolas erinnernden mythischen Geschöpfen einen „Herr-der-Ringe-Look“. 

 

Für all das, was sich nicht geändert hat

 

Während die Vorwürfe des Chors an unsere moderne Gesellschaft in Form eines meist homofonen, rhythmischen Sprechgewitters nur so auf uns einprasseln, bleiben die drei weißhaarigen Wirbelwinde beim vergangenen Mythos. Dabei steht einmal die berühmte Rächerin Medea im Kontrast zum „Shitstorm-Chor“, von welchem motzig zwischen synchroner Gleichschaltung und mehrstimmigen Individualismus über Rache im Internet gesungen wird. Statt den schwarzen Gewändern tragen die Singenden inzwischen – passend zur Leipziger Trash-chic-Ästhetik – schwarze Plateaustiefel, Trainingsjacke, Blazer oder Holzfällerhemd und in ihren blutverschmierten Händen liegen Schwerter und Kettensägen.

 

„Deshalb opfere ich mich jetzt für all das, was sich nicht geändert hat“ schreit einer der Mythengestalten und springt in den symbolischen Hades. „Hat euch das gereicht?“, wird das Publikum gefragt. „Nein? Dann mache ich es noch mal“ und wieder wird schreiend von der Bühne in das hintere Bühnendunkel gesprungen. Diese Slapstick-Szene bringt zum Lachen und bleibt hängen, auch wenn die letzte Wiederholung eine zu viel war. Wann hat die Geschichte der Rache endlich ein Ende?

 

„Phrase-dropping“

 

Immer wieder sind wir an unsere Gegenwart erinnert. Auf einmal ist da der Sturz auf das Kapitol, sind da Impfgegner, eine „pseudoenttäuschte Mittelschicht“, Shitstorms, Rechte, Faschismus, Gleichschaltung, Überindividualismus und die für alles verantwortlichen Vorgenerationen. Auch wenn der Text von Thomas Köck tiefgreifende Schwächen unserer Gesellschaft andeutet und diese ab und zu gelungen mit Humor und Ironie beweglich gemacht werden, hört es sich zwischendurch nach einem „phrase-dropping“ medienpräsenter Debatten mit wenig neuem Gehalt an, die von herumtobenden Figuren etwas zu albern präsentiert werden. Dennoch dreht es sich in  „vendetta vendetta“ stets um die zwei Fragen, denen wir uns besonders in diesen Zeiten widmen sollten: warum Rache und warum Gewalt?

 

Der nächste Aufführungstermin von "vendetta vendetta. (a bunch of opfersongs)" ist: 

So, 12.06. 19:30 — 20:00

Hinterbühne


Marie kann sich nach Theaterbesuchen ein ironisch-kritisches Kommentar nie verkneifen. Humor und Fantasie retten ihr das Leben.