Ich war ausgehungert und ausgezehrt vom ewigen Home-Office. Aufstehen, anderthalb Meter gehen und schon war ich am Arbeitsplatz. Zur Abwechslung ging ich mal in die Küche, schaute in den Kühlschrank, um ihn wieder zu schließen, ohne etwas herausgenommen zu haben. Doch dann, eine Botschaft des Himmels oder von Amelie. Montagabend, 18 Uhr Konzeptionsprobe des Stücks „Frühlings Erwachen“ von Frank Wedekind in der Inszenierung von Yves Hinrichs auf der Probebühne in Mockau. Und ich darf dabei sein! Endlich wieder Theater, auch wenn bei einer Konzeptionsprobe nicht gespielt, sondern, wie der Name es schon verrät, das Konzept des Stücks vorgestellt wird.
Ich schnappe mir also mein Rad und begebe mich in den Nordosten von Leipzig. Es ist verdammt kalt und ich merke, wie mir langsam das Gesicht zufriert. Endlich angekommen, betrete ich die Probebühne. Eine große Halle erstreckt sich vor mir. Unter der Decke, die wie ein umgedrehter Schiffsrumpf ausschaut, hängen allerlei Stahlkonstruktionen mit Scheinwerfern die das Bühnenbild beleuchten. Dieses besteht aus einer großen mit Holzplatten belegten Schräge, auf der sich hier und da Aussparungen befinden, die im Stück von den Schauspielenden auf unterschiedlichste Weise bespielt werden sollen. Hugo Gretler, der verantwortliche Bühnenbildner, erklärt, dass die Illusion eines Schulhofes im Bühnenbild widergespiegelt werden und unterstützend dazu, der Einsatz von Videoprojektion eine ästhetische Verstärkung hervorrufen soll. Parallel zur Bühne steht ein langer schwarzer Tisch an dem 27 Menschen, mit Maske und Abstand zueinander, sitzen und gespannt den Worten der unterschiedlichen Abteilungen lauschen.
Doch um was geht es eigentlich in „Frühlings Erwachen“? Das von Frank Wedekind geschriebene und 1891 veröffentlichte Stück behandelt die Entdeckung jugendlicher Regungen. Während die Eltern noch Geschichten vom Storch erzählen, tasten sich die Jugendlichen in eine neue Welt vor, die aufregend und gefährlich wirkt. Doch es geht um mehr als unterdrückte Teenagerromantik, Schmetterlinge im Bauch und Händchen halten. Eingezwängt im strikten System der wilhelminischen Gründerzeit gibt es kaum Freiraum für die Entdeckung der eigenen Sexualität. Ein Stück, so sagt es der Regisseur, das auch heute noch brandaktuell ist.
Ursprünglich geplant für das Jahr 2021, verging nun ein weiteres Jahr, in dem Zeit blieb, den Stoff zu hinterfragen und im Blickwinkel der Pandemie zu reflektieren. Gemäß des Jugendwortes von 2020, empfand auch Hinrichs ein gewisses „lost“ sein im Prozess des Stückes. Wie sich das auf der Bühne widerspiegelt, wird sich zeigen.
Weniger modern scheint die in „Frühlings Erwachen“ verwendete Sprache zu sein, deren Stil unverändert zu seinem Vorbild bleibt. Das sorgt für manchen Stolperer und witzigen Moment in der anschließenden Leseprobe, bei der die Darstellenden in verteilten Rollen das Stück lesen. Kurz nach der ersten Seite wird die Lesung unterbrochen und Schauspielerin Teresa Schergaut, später im Stück als Frau Bergmann zu sehen, macht einen, meiner Meinung nach, richtigen und wichtigen Einwand. Sie weist darauf hin, dass die Darstellung von Frauen in diesem Stück an vielen Stellen höchst sexistisch und patriarchal vereinnahmt ist. Einerseits entsteht damit eine provozierende Wirkung, so Hinrichs, andererseits muss versucht werden, dieses Konstrukt zu hinterfragen und aufzubrechen. Dabei betont er, dass sich viele Dinge noch im Laufe des Probenprozesses ergeben werden und er im ständigen Dialog mit den Darstellenden sein werde. Das Theater auf Gegenseitigkeit beruht, wird hier ganz deutlich.
Der Cast der Inszenierung besteht zum Großteil aus jungen Spieler*innen aus dem Theaterjugendclub „Sorry, eh!“, die auch die Jugendlichen in der Inszenierung verkörpern werden.
Es wird spät und kurz nach zehn ist es geschafft und das 58-seitige Textbuch ist durchgelesen. Etwas ermüdet vom vielen Sitzen fahre ich durch die nächtliche Kälte. Hach, Theater, was habe ich dich vermisst.
Philipp Hechtfisch (er/ihn) ist als beurlaubter Student gerade erst in Leipzig angekommen. Auch wenn es ihn ab und zu noch in die Heimat zieht und er gerne über die Zugverbindungen zwischen Leipzig und Dresden schimpft, ist seine Kreativität bereits nicht mehr aus dem Theaterpädagogik Team des Schauspielhauses wegzudenken.