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Wir sahen ihm an, dass er anders war. Zu zweit über „Drei sind wir“.

Wir befinden uns in einem Raum mit brauner und beiger Tapete. Nur eine weiße Tür, eine weiße Uhr und ein Spiegel zieren das Bild. Zwei Männer und zwei Frauen stehen aufgestellt darin.

Vielleicht zwei Paare, man weiß es nicht.

Sie tragen Kleidung der Spießbürgerlichkeit.

Sie: Rock, Bluse und Pumps. Er: Anzug und Krawatte. Klassisch.

Sie berichten über ihren Plan, ihre Reise nach Kanada. Sie reden über ihren Sohn Frühling, der jetzt auch mitkommen muss.

Dabei geht es in dem Stück nur indirekt um Frühling selbst. Wie er aussieht oder wie alt er ist, bleibt den ZuschauerInnen vorenthalten. Frühling lebt allein in den Dialogen seiner Eltern.

Jeder Tag, jede Woche, jeder Monat ist mehr als man hoffen darf.

Und zwar darauf hoffen, dass Frühling weiter am Leben bleibt. Dieser hat nämlich eine besonders seltene Art von Trisomie, die seine Lebenserwartung laut Ärzten verkürzt.

Wir sahen ihm an, dass er anders war.

Frühling steht (wie sein Name verrät) für Neuanfang, für Unerwartetes, für Aufbruch, Sehnsucht und das Schöne im Besonderen. Dass diese Einzigartigkeit nicht immer leicht auszuhalten ist, wird anhand mehrerer in Dialogen angedeuteter Alltagssituationen deutlich.

Es kommt Besuch. Ein Onkel, der dem Kind das Angeln beibringt. Eine Großmutter, die raucht und Dias mitbringt. Die Eltern, die jetzt Großeltern sind und die Gelegenheit für eine Rundreise nutzen.

Bis sie uns ansehen und verstehen und gehen.

Sie bleiben nicht, sondern gehen. Weiter. Weg. Von ihnen.

Sie rühren sich nicht, sind gerührt, aber geredet wird nicht.

Wir begleiten die junge Familie durch die Jahreszeiten. Zeiten, in denen das Kind nicht wächst, sich nicht entwickelt.

Am Anfang wickeln wir ihn. Um uns herum. Doch dann entwickelt er sich. Wickelt sich von uns ab.

Die Beziehung zwischen den Eltern und Frühling ist sowohl von Sorge um sein als auch ihr eigenes Leben geprägt.

Wir üben besitzen. Wir üben in ihm besitzen. Wir üben ersetzen. Ersetzt ihn!

Wir befinden uns im Kopf der Eltern. Ein Gefängnis, aus dem sie nicht ausbrechen können, wollen. I want to break free.

– scheint dennoch der insgeheime Wunsch zu sein. So singt es einer der Männer, den Blick starr auf die Wand gerichtet. Will er durch sie hindurch brechen?

 

ENGE

Ein Gefühl der Enge macht sich breit: sowohl räumlich als auch gesellschaftlich. Die Bühne – ein schmaler, langgezogener Kasten – ist gerade hoch genug, um darin stehen zu können. In diesem Kasten spielt sich das Leben der vier ProtagonistInnen ab. Die Tür in der hinteren rechten Ecke scheint ein potenzieller Fluchtweg aus den starren Alltagssituationen und den konfusen Gesprächen mit- und übereinander zu sein. Aber: Sie wird von keiner der Personen zum Hinausgehen genutzt. Trauen sie sich nicht?

Sie können nicht! Sie sind gefangen in der Abhängigkeit zu ihrem Kind, zu sich selbst.

Sind sie so gefangen in ihren Strukturen und Denkmustern, dass sie den Ausweg vielleicht gar nicht mehr erkennen? Immerhin verspricht das Fenster in der Wand neben der Tür Ausblick auf ein Leben jenseits der eigenen vier Wände und ohne gesellschaftliche Zwänge. Aber: Das vermeintliche Fenster ist ein Spiegel, der einem statt Aus- immer wieder Einblicke in das eigene Leben gibt. Beklemmend. Starr.

BEWEGTE STATIK

Eine einschüchternde Statik durchzieht das Stück. Die Versuche, sie zu durchbrechen, wirken ebenso statisch. Es gibt keine festen Rollen. Es gibt zwei Männer und zwei Frauen – Vater und Mutter. Es gibt kein Kind. Der Text ist fließend, Gespräche wirken gegenseitig ergänzt und doch abgehackt zugleich. Die Rollen wechseln untereinander. Die Frauen als Mutter, die eine stärkere Beziehung zu ihrem Kind hat, nehmen mehr Raum ein, sind präsenter. 

– wie so oft, wenn es um Kindererziehung geht. Die Väter, die ihn nehmen wollen, aber es nicht zeigen können. Doch nicht wissen wie sie es zeigen sollen. Unbedarftheit der Väter dient als Erklärung für die festgefahrene stereotype Rollenverteilung.

Die Musiksequenzen lockern das Stück nur auf Audioebene auf. Das Visuelle bleibt starr. Die Choreographien sind starr. Die Tänze sind verhalten. In der Konstellation steht immer jemand abseits oder tanzt aus der Reihe.

DREI SIND WIR                                                                                                                                                                          SIND ZU VIEL

– ein merklich sonderbarer Name für ein Stück, bei dem vier DarstellerInnen die Hauptrollen besetzen. Man muss kein Mathegenie sein, um zu merken, dass der Name des Stückes nicht mit der Anzahl an SchauspielerInnen zusammenpasst. Wenn also nicht auf die Personenzahl anspielen, auf was dann?

Drei sind wir. Eine/r ist zu viel. Eine/r steht immer abseits, tanzt abseits, singt abseits. Das Anders-Sein, das Abseits-Stehen wird zum zentralen Element. Jemand ist zu viel. 

Beim Tanzen. Beim Singen. Beim Leben. 

Es ist die vierte Person auf der Bühne. Es ist das Kind des Paares.

Dabei verhält es sich doch so: Niemand würde aus der Reihe tanzen, wenn es keine Reihe gäbe. Das Anderssein kommt also erst in Folge einer vorgegebenen Struktur zustande. Einer gesellschaftlichen Vorgabe, nach der man sich und sein Leben richten soll.

Trotzdem sind sie alle zusammen im Raum gefangen und können nicht ausbrechen. Müssen einander aushalten. Unterstützt wird dieses Spannungsfeld von skurrilen Ausbrüchen in Ton und Gestik: Zum Geräusch zerschellender Glühbirnen krampfartige Bewegungen, hilfsbereiter Small-Talk als An- oder ungerichtetes Hinschreien.

In rund 75 Minuten schafft es Wolfram Höll mit seinem Stück unter Regie von Thirza Bruncken innerhalb eines oberflächlichen Settings tiefgründige Themen anzusprechen und mit seinen sich überschlagenden Wortspielen für Gänsehaut zu sorgen.

Eine Inszenierung, die zu mehrmaligem Anschauen auffordert.

 

Ich hoffe sie hatten einen guten Sommer. Jetzt kommt der Herbst.

 

 Magali Raßmann (22), studiert Psychologie und hat eine Vorliebe für Zugfahren, in-Worte-gefasste-Gedanken und im-Kopf-bleibende-Worte, BIC Kugelschreiber, kleine und große Alltagsabsurditäten oder auch die Kombination aus all dem.

 

Johannes studiert Germanistik und Philosophie auf Lehramt und erfreut sich an jeder gelungenen Alliteration oder Paradoxie in Schrift und Sprache.

 


Ihr habt Drei sind wir noch nicht gesehen und seid neugierig geworden? Am 27.04. habt ihr die letzte Chance, das Stück als Stream auf dringeblieben.de zu sehen. Karten könnt ihr hier erwerben.