Besucht man „Der Besuch der alten Dame“, sieht man erstmal … sich selbst. In der Plexiglas-Scheibe, welche den Zuschauerraum von der Bühne trennt, spiegeln sich die ZuschauerInnen aufgrund der Lichtverhältnisse – das Bühnenbild bleibt bis zum Beginn der Vorstellung verborgen. Was versteckt sich hinter der Scheibe? Nachdem wir als Team der Theaterpädagogik die Produktion durch Probenbesuche kennenlernen durften, konnten auch neugierige SchülerInnen und LehrerInnen einen Blick hinter die Kulissen von Nuran David Calis’ Inszenierung werfen.
Wie weit wärst du bereit, für Geld zu gehen? Genauer gesagt: für eine Milliarde? Um diese Frage dreht sich das Drama „Der Besuch der alten Dame“ von Friedrich Dürrenmatt. Die BewohnerInnen von Güllen, einer einst reichen und nun am Rande des Bankrotts stehenden Stadt, müssen sich ihrem Gewissen stellen. Claire Zachanassian, die als Kind in Güllen gelebt und gelitten hat, ist nun eine reiche ältere Dame, die der Stadt für den Tod ihres früheren Liebhabers Alfred Ill, ihres „schwarzen Panthers“, genau eine Milliarde bietet. „Güllen für einen Mord, Konjunktur für eine Leiche“, wie sie es ausdrückt.
Vielen von euch sind Güllen, Claire Zachanassian und Alfred Ill sicherlich nicht fremd: Mittlerweile gehört das Drama zur Pflichtlektüre, wenn man das sächsische Abitur anstrebt. Aus diesem Grund stehen wir an einem verregneten Montag in der 10. Klasse der Leipzig International School. Nach einigen Lockerungsübungen, um den Schulalltag abzuschütteln, beginnen wir auch schon, uns intensiver mit den verschiedenen Charakteren der Geschichte auseinanderzusetzen: Claire, Alfred Ill, der Bürgermeister, der Pfarrer, die Lehrerin und so weiter. Zu jeder Figur, wie wir sie uns vorstellen, erfinden wir eine Pose. Anschließend positionieren wir uns zu Themen, die in der Aufarbeitung des Texts wichtig sind. Bin ich ein moralischer Mensch? Ist mir Geld wichtig? Bin ich käuflich? Zum Abschluss dürfen die SchülerInnen selbst inszenieren und sich fragen: Wie würde ich die Geschichte von Güllen und der alten Dame in die heutige Zeit versetzen?
Genau diese Frage hat sich auch Nuran David Calis gestellt, wie die SchülerInnen am Dienstagabend bei einem Probenbesuch herausfinden. Das Bühnenbild ähnelt einem gläsernen Bürokomplex, die Figuren auf der Bühne kommunizieren über Instagram, die Musik ist bis zum Anschlag aufgedreht und es wird gekokst. So stellt man sich eine arme Stadt aber nicht vor. Genau darum geht es auch in der Inszenierung: Egal wie viel der Mensch hat, im Endeffekt will er doch immer mehr. Eine Woche später, am 17. Oktober, feiert die „Dame“ Premiere.
Geben sich die BewohnerInnen Güllens der Versuchung hin? Schafft Alfred Ill es, zu entkommen? Wie äußert sich die Diskrepanz zwischen Moral und Gier, Verständnis und Rache in der modernen, geldhungrigen Welt?
Da das Schauspiel Leipzig seit dem 2. November, wie bundesweit alle Theater, coronabedingt fürs Erste geschlossen bleibt, müsst ihr euch bis Dezember gedulden, um Claires Geschichte zu verfolgen. Für den 12. sowie 19. und 20. Dezember sind noch Karten erhältlich. Also, wir sehen uns in Güllen!
Tabea Papritz entdeckte in ihrer Schulzeit ihre Leidenschaft für das Theater und sammelt nun erste Erfahrungen hinter der Bühne durch das FSJ-Kultur in der Theaterpädagogik. Ansonsten unterhält sie gerne ihre NachbarInnen mithilfe ihrer Geige, Stimme oder Wutanfällen, wenn ihr Laptop zu langsam ist.