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Annie, are you ok?

Gerade abgespielt und schon wieder da. Der Schauspieler und Regisseur Yves Hinrichs setzt auch in diesem Jahr seine Zusammenarbeit von Ensemble-SpielerInnen und Jugendlichen aus dem Spielclub „Sorry, eh!fort. Mit „Morningvon Simon Stephens bringt er Ende Februar die neue Produktion auf die Bühne der Diskothek. Was wir erwarten können wissen wir noch nicht, aber wir bleiben gespannt!

Einen kleinen Einblick in seine Arbeit haben Mitglieder der „SCENEN::NOTIZ“ bei der Dernière der Inszenierung „Ännie“ erhalten. Überzeugt euch selbst von den zwei Meinungen ...


„Ännie, ihr selbsterwählter Künstlername fürs Internet“

Eine brav angezogene Schülerin steht auf dem Plateau, monologisiert über ihre Erlebnisse mit Ännie, einem Mädchen, das vor zwei Jahren verschwand. Sie echauffiert sich über deren Selbstinszenierung, erzählt von den vielen Gesichtern und Namen, die das verschwundene Faszinations- und Hassobjekt hat.

 

Für die einen war sie Anne-Marie, für die anderen, Anni, Anne oder eben Ännie. Die Rebellin, IS-Kämpferin, ein hochbegabter Sonderling aus schwierigem familiärem Milieu – seit ihrem Verschwinden kreisen die Gespräche der Verbliebenen, die sie kannten, fast ausschließlich um ihr Verschwinden und ihre Person. Die Bewohner des fiktiven Orts suchen sich allerdings aus den Happen an Erinnerungen ihre eigene Wahrheit aus – je nachdem was am besten ins eigene Weltbild passt. Jeder entwickelt seine eigene Verschwörungstheorie.

 

„Ännie“ ist die dritte Produktion von Yves Hinrichs bei der SchauspielerInnen des Ensembles und MitspielerInnen des Jugendclubs „Sorry, eh!“ zusammen auf der Bühne stehen. Diese ergänzen sich zu einem professionellen und von jugendlicher Energie geladenen Bild der Authentizität. Als Bühnenbild wählte er ein monströses, schräg stehendes Plateau auf dem die Figuren bildlich an ihren eigenen inneren Abgründen ausrutschen.

 

Er beeindruckt mit einem zweistündigen Stück, in dem an Handlungen fast nichts passiert ohne dass es einen Moment an Spannung mangelt. Den Fokus richtet er auf die Menschen hinter der Fassade. Diese geben in ihren traurigen Erzählungen und hassschwangeren Behauptungen mehr über sich und ihre eigenen Abgründe preis, als über Ännie. Dem Zuschauer setzt sich ein Bild aus Lügen, Intrigen und Behauptungen zusammen, aus dem er sich seine eigene Wahrheit herausfiltern kann. Livemusik, Stroboskoplichteffekte und menschliches Versagen halten die Spannung, sodass der Zuschauer die Figuren am liebsten wachrütteln würde, um die Passivität und Lähmung aus ihnen herauszuschütteln.

 

 

Viele Fragen bleiben offen. Das dörfliche Gerede über Gerüchte erinnert an Fake News. Schön, dass man nach einem Theaterbesuch wieder einmal diskutieren und seine eigenen Antworten geben kann.

 

 

Diese Rezension ist im Rahmen des Projekts „SCENEN::NOTIZ“ in Kooperation mit der Jugendpresse Sachsen entstanden und wurde von Paula Seitz verfasst.


Die Diversität der Wirklichkeit

„Wer sagt was echt ist, sind diejenigen, die am lautesten schreien.“ Eine Wahrheit, die leider viel zu oft stimmt, ob in der Politik, Gesellschaft oder in den kleinen Kreisen.  Ebenso auch im Theaterstück „Ännie“ von Thomas Melle. Die Rollen werden dabei sowohl vom Schauspielensemble als auch dem Theaterjugendclub „Sorry, eh!“ besetzt. Regie und Bühne liegen in der Hand von Yves Hinrichs, der u. a. auch den Theaterjugendclub leitet.

 

Das Stück beschäftigt sich mit der Entwicklung eines Mythos´ um ein junges Mädchen, dessen Verschwinden fortwährend mehr auf Annahmen als auf Beweisen beruht und wobei jeder seine eigene Theorie hat, was geschehen sein könnte. Letztendlich bleibt alles eine Frage der Interpretation.

Das Drängen der Ungewissheit ist und bleibt der Kern des Ganzen.

 

Ihre Mutter Romy (Charlotte Puder) glaubt oder hofft, sie noch immer wiederzufinden. Dabei soll ihr der frühere Polizist Fred (Michael Pempelforth) helfen, den sie in der Hoffnung lässt, Ännies Vater zu sein. Diese Hoffnung macht sie für sich und andere zur Wahrheit und gibt damit Einblicke in die innere Welt eines Menschen, der versucht sich restlos an alles zu klammern, was er noch hat. Helle Momente der Hoffnung und dunkle Tiefen der Verzweiflung scheinen ein Spiel mit der in sich zerrissenen Mutter zu spielen.

 

Daneben gibt es noch das wohlhabende Ehepaar Fassbender (Andreas Keller und Annett Sawallisch), das Ännie in ihrer Kindheit und Jugend teilweise fast wie eine eigene Tochter aufgezogen hat. Sie schaffen es, politische Angstmache so zu verkörpern, wie man es hinter den Türen rechtsorientierter Wähler vermutet.

 

Neben den Erwachsenen liegt in diesem Stück auch ein starker Fokus auf der jungen Generation, der Ännie selbst entspringt. Heike (Lydia Mahler) und Hauke (Benjamin Viziotis) verkörpern das Klischee der unsensiblen Jugend, die respektlos und provokant ist, aber gleichzeitig auch reflektiert. Durch sie wird ein Spiel der Gegensätze aufgegriffen. Rauchen und Yoga, Respektlosigkeit und Einfühlsamkeit.

 

Kathi (Nele Christoph), eine frühere Mitschülerin Ännies oder vielmehr Annemaries, wie sie sie stets mit ihrem vollständigen Namen bezeichnet, wagt es, die Verschwundene zu kritisieren. Sie wagt es auszusprechen, was so viele denken. Sie schafft Raum für all die Zweifler und Kritiker, die nicht bereit sind, im Strom des ewigen Gutredens Verstorbener mitzuschwimmen.

 

All diese verschiedenen Perspektiven verweben sich zu einem so großen und ungreifbaren Konzept, dass es der Realität des Mädchens, das sich Ännie nannte, entgleitet.

 

Das Stück trägt eine Tiefgründigkeit mit einer eigenen Leichtigkeit in sich, die vor allem durch den jugendlichen Charme getragen wird. Eifersucht, Begehren und Abhängigkeit kommen dabei zwischen den Personen zum Vorschein. Genauso wie die Abgründe einzelner Figuren, egal ob Drogen, Gewalt oder Alkoholismus.

Die im Werk enthaltene Dynamik wird durch den Aufbau der Bühne unterstützt. Schräg und nicht waagerecht hinterlässt sie den Eindruck, als wäre sie ein Teil der jugendlichen Rebellion. Nicht bereit sich anzupassen. Ebenso die bewegliche Lichterdecke aus Neonröhren. Im Zusammenspiel mit weiteren unterschiedlich farbigen Lichteinflüssen verändert sich während des Stückes immer wieder die Raumwahrnehmung und schafft es so, den Zuständen und Gefühlen der Figuren einen eigenen Raum und so stärkere Aussagekraft zu geben.

 

Auch spiegeln live gespielte Musik, Gesang und Tanz die Stimmung und Gefühlswelt der Protagonisten wider und Hüllen den Zuschauer in die Melancholie der Ungewissheit und des irgendwann Vergessenwollens.

 

Diese Rezension ist im Rahmen des Projekts „SCENEN::NOTIZ“ in Kooperation mit der Jugendpresse Sachsen entstanden und wurde von Jule Leistner verfasst.