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Geschlechterrollen

Zuerst war ich sprachlos vor Staunen, dann vor Entsetzen.

 

„Der Widerspenstigen Zähmung“ ist eine Komödie von William Shakespeare, die um 1592 entstand. Sie nahm mich am 08. Mai 2019 im Schauspiel Leipzig in einem Strudel aus Begehren, Wahnsinn und Verstörung gefangen. Moritz Sostmann führte Regie bei diesem Stück und setzt dabei auf eine herausragende Art und Weise das Puppenspiel, sein Markenzeichen, ein. Noch nie erschien mir es so natürlich, dass Menschen und Puppen zusammen in einer Welt, in einer Familie leben.

 

In der Einführung wurde das Stück als „Komödie mit Denkanstoß“ bezeichnet und beobachtet man es bis zur Pause, so kann man nur vollkommen zustimmen. Die moderne Adaption, bei der ein Anti-Patriarchat vorherrscht, enthält Witz, vulgäre Sprache, Gegenwartsbezüge und Klischees. Sie lässt einen laut mitlachen und den Fuß zur Musik mitwippen.

 

Nachdem man sich jedoch zum zweiten Mal in den Saal begeben und auf den Stühlen Platz genommen hat, ändert sich die Stimmung. Wie dem Titel zu entnehmen, tritt die unvermeidliche Zähmung in vollen Zügen ein. Zuvor war sie amüsant, verständlich und nicht zu ernst genommen. Doch nun verliert die Komödie ihr Recht auf diese Bezeichnung. Ein Trauerspiel beginnt, bei dem man dem armen Katharino (Andreas Dyszewski) dabei begleitet, wie er durch Schlaf- und Nahrungsentzug schändlich behandelt und letztendlich gebrochen wird.

 

Dem gegenüber bleibt das Liebesspiel von Bianco (Ron Helbig) und Lucentia (Alina-Katharin Heipe), eines heiteren turtelnden Paares, bestehen. Dieser makabre Vergleich der beiden Pärchen erstickt einem das Lachen im Hals.

 

Auch Christopher Schlau (Felix Axel Preißler), der durch die Rahmenhandlung in das Stück eingeschleust wird, verstrickt sich in diese sexistische, frauendominierende Geschichte, in der Männer, aufgrund von Aussehen oder Geld, zum Objekt der Frauen gemacht werden. So sehr Schlau auch Vertreter des Patriarchats zu Beginn war, wird er dennoch – wie auch Katharino – gezähmt oder viel mehr gebrochen. Durch ihn verschmilzt unser Hier und Jetzt mit dem Stück und es wird das Gefühl vermittelt, es könne einer solchen Zähmung keiner entkommen.

Petruchia (Anne Cathrin Buhtz) wirkt wie Gift in jeder Gesellschaft, dennoch ist sie das, was viele idealisieren: eigensinnig, ungebunden, emanzipiert. Sie hat einen starken Charakter und spielt mit Männern.

 

Die Inszenierung wirft, unter anderem durch Figuren wie sie, viele für uns gesellschaftlich relevante Fragen auf: Wo fängt Unterdrückung an? Wie viel Sexismus ist vertretbar? Ist er das überhaupt? Wer darf wen zum Objekt machen? Steht die Frau über dem Mann oder der Mann über der Frau?

 

In Bezug auf den Geschlechtertausch zum Originalstück bleibt für mich die erschreckendste Erkenntnis, wie unsere Gesellschaft von Geschlechterrollen und der Kritik daran geprägt ist. Lange Zeit geschah (und geschieht immer noch) so viel Frauenfeindliches, dass es kritisch wäre, Frauen auf der Bühne willenlos und dem Patriarchat untergeordnet darzustellen. Andersherum – Männer den Frauen untergeordnet und willenlos gegenüber, scheint das jedoch kein Problem zu sein. Oder täuscht das? Wo bleiben sie, um sich über eine sexistische Darstellung und Herabwürdigung ihres Geschlechts zu beschweren?

 

Diese Rezension ist im Rahmen des Projekts „SCENEN::NOTIZ“ in Kooperation mit der Jugendpresse Sachsen entstanden und wurde von Jule Leistner verfasst.