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Für meinen Bruder

In einem abgedunkelten Raum öffnet sich eine Blume – oder ein Keks – und es entsteigen Thomas Braungardt, Patrick Isermeyer, Amal Keller und Teresa Schergaut, die alle die Rolle der Schwester verkörpern – die Schwester, eine Antagonistin schlechthin, als Protagonistin. Sie ist hässlich, verbiestert, manipulativ, zwielichtig, aber auch ehrlich, kindlich, findet Trost in alten Soap-Operas.

 

Er, der Bruder, schön, populär, gefühlvoll, weint oft, wird aber nur in ihren Erzählungen beschrieben.

Elsa-Sophie Jach thematisiert in ihrer Inszenierung „Für meinen Bruder“, ein Auftragswerk des Schauspiel Leipzig, aus dem Finnischen von E.L. Karhu, die verschwimmenden Grenzen zwischen Fantasie und Wirklichkeit. Sensualität reißt das Publikum mit und wird ins ad absurdum getrieben. Es erfährt Grenzen und Grenzüberschreitung.

In Exzessen der Lust vergreift sie sich an Süßigkeiten und Substanzen und nimmt es mit.Trotz ihrer provozierenden und wirren Gedanken ist sie doch konfliktscheu, bleibt im Hintergrund. Ständig entflieht sie Konflikten, die drohen, ihre Welt zu zerstören, die ihre Welt zerstören – in ihrem Kopf, auf Wanderschaft, mit Konsum.

Das Bühnenbild untermalt das wirre Innenleben der Protagonistin. Eine scharfe Zunge langt gierig zu einem sich öffnenden und schließenden Keks. Stechende Kritik nach innen, zu kindlicher Unschuld nach außen – zumindest gegenüber ihrem Bruder. Die neuen Freundinnen des Bruders – genannt Spekuletten – verurteilt, verabscheut sie zutiefst, stalkt sie, um ihren Bruder vor deren zwielichtigen Spielen zu schützen. Sie liebt ihren schönen, beliebten Bruder, ist Teil seiner Welt und doch nur Beobachterin. Sie verabscheut seine Welt und will doch darin leben. Auch die Grenzen zwischen einer mütterlichen und sexuellen Liebe verschwimmen.

 

In insgesamt 120 Minuten Spielzeit schafft es Elsa-Sophie Jach, das Leben einer Erzählfigur bis ins peinlichste Detail aufzureißen und stellt einen Spannungsbogen her, wessen Auflösung einen nach dem Stück noch mit in die Tram nimmt. Die breite Auffächerung der Figur der Schwester, auch in die Verteilung der verschiedenen Charakterzüge, macht Lust auf eine tiefere Entdeckung der Figur und einen zweiten Theaterbesuch definitiv wert.


Johannes ist Teilnehmer*in des Scenen::Notiz Kollektivs in der Spielzeit 2022/23.

Scenen::Notiz ist ein Projekt des Schauspiel Leipzig in Kooperation mit der Jugendpresse Sachsen e.V..

Es richtet sich an alle theaterinteressierten Menschen, die ihre Gedanken zu den Inszenierungen in Form von Kritiken festhalten möchten. Im Anschluss an einen kostenfreien Theaterbesuch tauschen sich die Teilnehmer*innen über das Gesehene, sowie die dazu entstanden Texte, gemeinsam mit dem Team der Theaterpädagogik und einer Vertreter*in der Jugendpresse aus. Die fertigen Texte werden dann hier auf dem hauseigenen Blog veröffentlicht!