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Rachegelüste vor Pastellpostkarten - Panorama

Sie entscheidet sich jetzt Opfer zu sein, sich zu opfern für das Ende der Rache, verkündet eine der drei Erzählerfiguren. Immer wieder springt sie vom Bühnenrand, das Publikum hört nur ihre Schreie. Doch so richtig will die Opfergabe nicht funktionieren: Die erste Publikumsreihe schüttelt zögernd den Kopf, als sie gefragt wird, ob die Rache jetzt damit vorbei sei.

 

Eine klare Rolle abgesehen vom „Opfer“ haben die drei Erzähler:innen nicht. Zu Beginn verkörpern sie Lucretia: die schöne, tugendhafte Frau in samtgrünem Kleid, die den Beginn ihres Mythos sucht. Später scheinen sie namenlos, noch später rezitieren sie Medea. Wenn eine der drei nah am Publikum steht, sieht man in ihren Gesichtern, dass sie schon lange nach Antworten suchen: Die Schminke ist von Anfang an nicht gleichmäßig aufgetragen und es sieht aus, als hätten sie Hautfetzen im Gesicht. Je länger die Suche sich zieht, desto zerzauster sehen sie aus.

 

Vendetta Vendetta (a bunch of Opfersongs) von Thomas Köck feierte am 12.02.2022 auf der Hinterbühne des Schauspiel Leipzig Premiere. Lange Ausführungen über Rachegelüste (Tod durch Bunsenbrenner, Fleischhaken oder die Verarbeitung zu Kampfhundefutter) stehen im Kontrast zur Bühne, die aussieht wie eine Postkarte. Die rosafarbene Treppe und die weißen Strandliegen passen nicht so ganz zu den brutalen Fantasien. Für anderthalb Stunden beschäftigen sich der neunköpfige Chor und die drei Erzähler:innen mit Rache: Wo fängt sie an, wo hört sie auf, wie wird sie ausgelöst? Etwa an einem trübregnerischen Nachmittag oder als Lucretia Suizid begeht?

 

Man kann sich kaum an den bunten Kostümen des Chors sattsehen, der im ersten Teil des Abends aussieht wie eine Versammlung von High-Fashion Bösewichten. Später präsentiert er sich auf schwarzen Plateauschuhen und Outfits, die so zufällig zusammengestellt scheinen, dass sie wieder zusammenpassen. Er kann als anonyme Masse verstanden werden, der den Shitstorm regnen lässt. „Nichts brennt so gut wie eine frisch unbedachte Meinung“, sagen die neun Stimmen. „Wir haben den Hass kapitalisiert“. Es schwingt Kritik an der Gesellschaft mit. Wenn jemand für sich alleine sprechen würde, dann hieße das ein Auseinanderbrechen. Die Homogenität ist wichtig.

 

Am Ende ergibt sich ein vielsagendes Bild: Der Chor hat blutige Hände, die drei Opfer blutige Gesichter. Obwohl sie sich aus scheinbar freiem Willen in die Tiefe gestürzt haben, scheint die Schuld am Chor zu liegen, der immerhin mit verschiedensten Waffen auf der Bühne steht. „Die Gefahr geht von der Mitte aus“: von den Unsichtbaren, die der Norm entsprechen und dann im Internet am anonymen Hasschor teilnehmen.

 

Vendetta Vendetta versucht in anderthalb Stunden das Thema Rache zu begreifen. Anstatt dem Publikum eine klare Antwort auf die Fragen zu geben, entwickelt sich das Stück zu einer Kritik moderner Gesellschaft. Das Stück mischt mit Leichtigkeit klassische Dramentexte mit modernen Ausführungen über Rache, was den Abend abwechslungsreich macht. Mit der Erwartung klarer Antworten oder einer linearen Erzählung sollte man sich nicht auf die Hinterbühne des Schauspiel Leipzig setzen. Vendetta Vendetta liefert stattdessen Denkanstöße, einen rasanten, amüsanten Abend und visuelles Spektakel.

 

 Die nächsten Aufführungstermine von "vendetta vendetta. (a bunch of opfersongs)" sind:

 

Mi, 18.05. 19:30 — 20:55

Hinterbühne

Do, 19.05. 19:30 — 20:55

Hinterbühne

So, 12.06. 19:30 — 20:00

Hinterbühne


Livia Wolf sucht ihre Inspiration überall. Dabei steht das Theater weit oben, dicht gefolgt von Gesprächen voller Hirngespinste.