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Warum heißen denn alle Peggy?

 Ich liebe das ja am Theater, wenn Lars Eidinger wieder eine seiner One-Man-Shows abzieht. Oder die eine Schauspielerin plötzlich aus dem Publikum emporspringt. Und niemand weiß so genau: Ist das die Realität? Ist das echt? Am Institut für Theaterwissenschaft sagt man zu diesem heiklen Forschungsgegenstand Realitäts- und Fiktionsebene. Bei meinem Stream hatte ich das auch, der hing irgendwie die ganze Zeit. Aufregende theatrale Praktik! Dachte ich mir, bis meine Mitbewohnerin reinkam und fragte, ob das WLAN bei mir auch so beschissen sei. Am nächsten Tag ging es dann. Zugegeben, währenddessen musste ich sehr widerstehen, Instagram zu öffnen und nach einem Futon-Bett auf eBay-Kleinanzeigen zu suchen. Aber das ist eher nicht der Widerstand, den Lukas Rietzschel in seinem Stück Widerstand meint.

 

In Enrico Lübbes Inszenierung Widerstand kehrt die Tochter Isabell zurück in das ostdeutsche Dorf ihrer Jugend. Sie ist jetzt Ärztin in Leipzig, das wird von allen auch kommentiert. Die eine, die jetzt in der Stadt ist. Es schwingt auch ein Hauch des Vorwurfs von Verrat mit. Sie schlüpft zurück in ihre höchst unangenehm spießige, kleinbürgerliche Herkunft. Ihre Mutter ist krank und wird nie gezeigt, das ist auch nicht so wichtig. Der Vater pflegt sie. Die Mutter. Er hat auch ein Verhältnis mit seiner Physiotherapeutin Peggy. Die ist solariumgebräunt, bittet den Vater, sich seine Rückenbehaarung zu waxen, knetet mit den Händen im Hackfleisch und im Hintergrund läuft Fahrstuhlmusik. Die Drehbühne dreht immer und immer weiter. Die Figuren auf der Bühne scheinen leblos. Zum Sprechen müssen sie sich nicht ansehen, zum Berühren nicht anfassen. Vielleicht geht es hier um das Zurückgelassensein und das Sich-abgehängt-Fühlen, wenn es mehr Kühe als Menschen an einem Ort gibt.

 

Im Theater muss alles immer ein bisschen mehr sein, das weiß ich schon lange. Deshalb schminkt man sich immer ein bisschen mehr und der Rock muss ein bisschen länger sein und die Geste größer. Damit alle es sehen. Ist doch eine analoge Kunst schließlich. Aber was, wenn die Kamera jetzt ganz nah dran ist? Am Kleber von Franks Mikroport. Oder an seinem Lippenstift. Und wenn die Kamera auf der Drehbühne steht und wir immer wieder die leeren Stühle sehen oder die Scheinwerfer direkt in die Kamera leuchten. Manchmal filmt die Kamera aber auch nur ganz nah Isabells Hand. Ich frage mich, für wen die Inszenierung konzipiert worden ist. Für das Video oder für die Bühne? Seit Beginn der Pandemie, als die Streams frontal abgefilmte Aufnahmen waren, hat sich viel getan, aber ist das jetzt ein Film oder Theater?

 

Aber was ist das, dieser Widerstand? Worum geht es hier, wer widersteht hier wem und wobei?

Wie es so oft ist, kommen die wichtigsten Sätze ganz zum Schluss: Ich kann kein Verständnis mehr haben. Sagt Isabell. Ich habe alles zu verstehen versucht. Als es losging mit dieser Sprache, diesen Hasstiraden, sogar als die ersten Heime brannten.

 

Vor einigen Tagen habe ich ein frontal21-Video darüber gesehen, wie sich bei Dresden eine Gruppe zusammenschließt, um den Ministerpräsidenten zu töten. Also jetzt in echt.

Und kurz danach dann, wie der Vater in Lübbes Widerstand den Staat töten will. Im Stück schickt er dem Innenminister zur Drohung eine Waffe zu. Also jetzt in Fiktion.

Zufall? Ich glaube nicht.

 

Das Ende habe ich auch zweimal sehen müssen. Ich habe einfach nicht verstanden, wer die Mutter umgebracht hat oder überhaupt wer hier von wem umgebracht wurde. Das wäre natürlich im echten Theater nicht gegangen. Das mit dem Zweimal-Schauen. Vielleicht wäre ich aber dann auch nicht auf eBay-Kleinanzeigen gelandet. Und vielleicht war es auch die Intention von Stück und Inszenierung. Das weiß wohl nur Enrico. 


Hannah Arnim geht gern ins Theater. Deshalb ist sie im Moment traurig und fährt ab und zu nach Berlin oder sieht sich Theater im Stream an, mit dem sie aber noch auf Kriegsfuß steht.